Die Finanzverwaltung vertritt die Auffassung, dass der allgemeine Vorläufigkeitsvermerk zu § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a EStG keine Änderungsmöglichkeit zu Gunsten der Steuerpflichtigen eröffnen würde. Diese Auffassung wird aus den nachstehenden Gründen nicht geteilt:
Die Finanzämter hatten ab 2010 davon Kenntnis, dass eine Vielzahl von Musterverfahren zur Besteuerung von Einmalzahlungen und Zahlungen aus Schweizer Pensionskassen (vgl. z. B. X R 33/10, VI R 20/10, VIII R 31/10, VIII R 38/10, VIII R 39/10, VIII R 41/11), aber auch von Beiträgen an Schweizer Pensionskassen (Az.: VI R 6/11 und I R 83/11) beim BFH anhängig waren.
Die ergangen und streitbefangenen Einkommensteuerbescheide waren hinsichtlich des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a Doppelbuchstabe aa EStG nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO vorläufig.
Die streitigen Auszahlungen wurden vom Finanzamt entsprechend der damaligen Verwaltungsauffassung unter den § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a Doppelbuchstabe aa EStG subsummiert. Hierunter fallen auch die Bezüge aus Pensionskassen nach der damaligen Auffassung und nach der heutigen Auffassung hinsichtlich der Bezüge aus dem Obligatorium. Deswegen wurden die Bezüge in den Steuerbescheiden auch als „Leibrenten“ bezeichnet (Seite 2 des Bescheids).
Auf der ersten Seite des Bescheids, die für den Adressaten maßgeblich ist, ist die Vorläufigkeit nicht eingeschränkt auf die Nummer 3 der einschlägigen Rechtsnorm. Eine solche Einschränkung auf die Nummer 3 von § 165 Abs. 1 Satz 2 AO ergibt sich lediglich aus den Erläuterungen zur Festsetzung auf der Seite 4 des Bescheids. Maßgeblich ist jedoch das Rubrum des Verwaltungsaktes. Hierauf muss sich ein Steuerpflichtiger und sein Berater verlassen können.
Hinsichtlich der Vorläufigkeit gilt es die nachstehende Rechtsentwicklung zu beachten:
Nach dem Schreiben des BMF vom 3.8.2007 IV A 4 - S 0338/07/0003, BStBl 2007 I S. 535 wurde ein Vorläufigkeitsvermerk für die Besteuerung der Einkünfte aus Leibrenten im Sinne von § 22 Satz 1 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a Doppelbuchstabe aa EStG für Veranlagungszeiträume ab 2005 angeordnet (wobei der Vorläufigkeitsvermerk sämtliche Leibrentenarten im Sinne von § 22 Satz 1 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a Doppelbuchstabe aa EStG umfasst). Die Vorläufigkeit wurde (wohl) nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO angeordnet.
In dem Schreiben des BMF vom 15.12.2008 IV A 3 - S 0338/07/10010-02, BStBl 2008 I S. 1010 wurde der zuvor dargelegte Vorläufigkeitsvermerk ausdrücklich auf § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO gestützt (also auf die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht, die Gegenstand eines Verfahrens bei dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft, dem Bundesverfassungsgericht oder einem obersten Bundesgericht ist).
Ab dem BMF-Schreiben vom 1.4.2009 IV A 3 - S 0338/07/10010, BStBl 2009 I S. 510 wurde der hier in Rede stehende Vorläufigkeitsvermerk (neben § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO) auch auf die Vorschrift des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO n. F. gestützt (also darauf, wenn die Auslegung eines Steuergesetzes Gegenstand eines Verfahrens vor dem Bundesfinanzhof ist).
Damit wäre die Aufnahme der Nr. 4 des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO in die Erläuterungen zur Festsetzung sachgerecht gewesen, zumal das Finanzamt Kenntnis von den anhängigen Verfahren ‑ wie vorstehend ausgeführt - hatte.
Es wäre infolge dessen Aufgabe des Finanzamts gewesen, das Rubrum des Bescheids eindeutig und unmissverständlich entsprechend den Vorgaben zu formulieren.
Aufgrund der Bezeichnung der Bezüge aus der Schweizer Pensionskasse als Leibrenten und des allgemeinen Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO im Rubrum der Bescheide sind die Bescheide aufgrund der Rechtsprechung des BFH und der geänderten Verwaltungsauffassung zu ändern.
Beim Finanzgericht Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg sind unter den Az.: 3 K 3897/16, 3 K 3898/16 und 3 K 3895/16 Verfahren anhängig. Auf diese Verfahren kann man sich im Rahmen des Einspruchsverfahrens beziehen, wenngleich ein Anspruch auf Ruhen des Verfahrens derzeit noch nicht besteht.