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Übergangsregelung zum Herrenberg-Urteil für Lehrtätigkeiten auf Honorarbasis

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Gericht / Az:
BSG, Urteil vom 28.6.2022 B 12 R 3/20
Fundstelle:
juris
Gesetz:
§ 127 SGB IV

Bildungs- und Aus­bildungs­tätigkeiten

Bildungs- und Ausbildungstätigkeiten, insbesondere im Bereich der Erwachse­nen­bildung und der Musikschulen, erfolgen in Deutschland zu einem großen Anteil durch tatsächlich oder vermeintlich selbständig tätige Lehrkräfte.

Statusbeurteilung von Lehrern und Dozenten

Mit Urteil vom 28.6.2022 zu einer Musikschullehrerin an einer städtischen Musikschule hat das BSG nunmehr auch seine Rechtsprechung zur Sta­tus­beurteilung von Lehrern und Dozenten fortentwickelt und die bereits in jün­ge­rer Rechtsprechung vorgenommene Schärfung des Kriteriums der be­trieb­lichen Eingliederung und dessen maßgebender Bedeutung für die Status­be­urteilung auch bei der Charakterisierung dieses Per­so­nen­krei­ses ange­wandt. Im Er­gebnis waren viele Lehrkräfte nicht mehr als selb­stän­di­ge Ho­no­rar­kräfte, son­dern als abhängig Beschäftigte zu beurteilen. Viele Bil­­dungs­­ein­rich­tun­gen be­für­chteten infolgedessen Beitragsnachforderungen aus Be­­triebs­prüfungen.

Praxishinweis

Eine ausführliche Darstellung erfolgte in unserem Seminar Arbeitslohn 20251. Eine Videoaufzeichnung können Sie über unsere Homepage erwerben: https://www.neufang-akademie.de/shop/produkte/alle/arbeitslohn2025

Vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung des BSG sind die Spit­zen­or­ga­ni­sa­tio­nen der Sozialversicherung übereingekommen, ihre Be­ur­tei­lungs­maßstäbe für den in Rede stehenden Personenkreis zu präzisieren. Die­se neuen Beurteilungsmaßstäbe sollen auch in laufenden Bestandsfällen spä­testens für Zeiten ab 1.7.2023 Anwendung finden2.

Bislang Ver­trauens­schutz nur bis 30.6.2023

Das würde bedeuten, dass (nur) bis zum 30.6.2023 Vertrauensschutz hin­sicht­lich der bisher anderslautenden Festlegungen der Sozialversicherung be­standen hätte, wenn die Arbeitgeber die Rechtsprechung des BSG aus dem Jahr 2018 beachtet haben3.

Bildungseinrichtungen und Lehrkräfte haben sich über Jahre an den seit lan­gem von den Spitzenverbänden der Sozialversicherung verlautbarten Maß­stä­ben für die Einordnung einer Lehrtätigkeit als abhängige Be­schäf­ti­gung oder selbständige Tätigkeit, die aus der einschlägigen Recht­spre­chung vor dem Her­renberg-Urteil abgeleitet worden waren, orien­tiert und sich darauf ein­ge­stellt. Auf dieser Grundlage haben sich in weiten Tei­len des Bildungs­be­reichs die Organisations- und Geschäftsmodelle für den Einsatz von selb­stän­di­gen Lehrkräften etabliert.

Bildungseinrichtungen sehen sich infolge des Urteils nunmehr zum Teil hohen Nach­forderungen von Sozialversicherungsbeiträgen ausgesetzt und dadurch in ihrer Existenz gefährdet. Zudem beklagen Bildungseinrichtungen und Lehr­kräf­te Rechtsunsicherheiten hinsichtlich der Ausgestaltung der Verträge mit selb­ständigen Lehrkräften. Diese Gemengelage gefährdet die Auf­recht­er­hal­tung eines umfassenden Bildungsangebots. Aufgrund dieser be­son­de­ren Situation und der herausragenden gesamtgesellschaftlichen Be­deu­tung des Bil­dungs­be­reichs ist es ausnahmsweise gerechtfertigt, zum einen für einen be­grenzten Zeitraum von einer ansonsten zwingenden Nach­for­de­rung von Sozial­­ver­siche­rungsbeiträgen abzusehen und zum an­de­ren Bildungs­ein­rich­tun­gen und Lehr­kräf­ten ausreichend Zeit zu geben, um die notwendigen Um­stel­lungen der Or­ga­ni­sa­tions- und Geschäftsmodelle vor­zu­neh­men, damit Lehr­tätigkeiten auch unter den ver­än­der­ten Rah­menbedingungen weiterhin so­wohl in ab­hängiger Beschäftigung als auch selb­­stän­dig aus­ge­übt werden kön­nen.

Gegen diese rückwirkende Neubeurteilung haben sich massive Widerstände aufgetan. Der Deutsche Tonkünstlerverband - der Berufsverband für Musik­be­rufe (DTKV) hat ein Moratorium zur stufenweisen Umsetzung des „Herren­berg-Urteils“ und den Verzicht auf alle Nachforderungen bis zum Herbst 2025 ge­for­dert. Dies ging soweit, dass auch die Politik sich mit der Frage der rück­wirk­enden Beurteilung beschäftigt hatte.

Übergangsregelung bis 31.12.2026

Daraufhin hat der Bundestag am 30.1.2025 eine Übergangsregelung für Lehr­kräfte in einem neuen § 127 SGB IV beschlossen. Die Übergangs­re­ge­lung gilt bis zum 31.12.2026. Der Bundesrat hat am 14.2.2025 dieser Über­gangs­re­ge­lung für selbstständige Lehr­tätigkeiten auf Honorarbasis zugestimmt.

Gilt für Lehrkräfte auf Honorarbasis

Diese Übergangsregelung sieht vor, dass bei dem betroffenen Personenkreis Ver­sicherungs- und Beitragspflicht aufgrund einer abhängigen Beschäftigung erst ab dem 1.1.2027 eintritt. Das gilt für Lehrkräfte, die bisher auf Honorar­ba­sis als Selbstständige tätig waren und für die keine So­zial­ver­siche­rungs­bei­trä­ge gezahlt wurden.

Voraussetzungen

Die Regelung knüpft an zwei Voraussetzungen an:

die Vertragsparteien sind bei Vertragsschluss übereinstimmend von einer Selb­stständigkeit ausgegangen und
die betroffene Lehrkraft stimmt der Übergangsregelung zu.

Umstellungen der Organisations- und Ge­schäfts­modelle

Die Übergangsregelung soll Bildungseinrichtungen und Lehrkräften aus­rei­chend Zeit geben, die notwendigen Umstellungen der Organisations- und Ge­schäfts­modelle vor­zu­neh­men, damit Lehrtätigkeiten auch unter den ver­än­der­ten Rahmenbedingungen wei­ter­hin sowohl in abhängiger Beschäfti­gung als auch selbständig ausgeübt werden können.

Hinsichtlich der praktischen Umsetzung sind noch Gremienbeschlüsse bzw. Er­geb­nisse der Spitzenverbände abzuwarten.

Praxishinweise

Wir raten allen Bildungseinrichtungen, hier und jetzt tätig zu werden und sich auf Umstellungen vorzubereiten.

Dringende Handlungs­empfehlung

Es muss geprüft werden, inwieweit Festanstellungen aktiv umgesetzt werden können.
Honorarverträge müssen spätestens zum 1.1.2027 angepasst werden, um den verschärften Bedingungen zur Freiberuflichkeit gerecht werden zu können.
Zur versicherungsrechtlichen Statusbeurteilung sind zukünftig die all­ge­meinen Maßgaben des § 7 SGB IV anzuwenden. Hierzu dient der unten stehende Positiv-Kriterienkatalog.

Möglicher Positiv-Kriterienkatalog

Möglicher Positiv-Kriterienkatalog:

nur allgemeine inhaltliche Rahmenvorgaben
Einfluss auf organisatorische Ausgestaltung der Tätigkeit
Mitbestimmung bei Unterrichtsort und -zeit
Beteiligung an Kosten (z.B. für Unterrichtsräume)
Möglichkeit des Einsatzes Dritter (Vertretung)
Akquise von Schülern und Unterrichtung auf eigene Rechnung
keine Ausschließlichkeitsklausel
Vergütung auch abhängig von variablen Elementen
kein Ausfallhonorar
keine Verpflichtung zur Vorbereitung und Durchführung gesonderter Ver­an­stal­tungen
keine Verpflichtung zur Teilnahme an Konferenzen o. Ä.

Kriterien sind nicht abschließend

Die o. g. Kategorien sind nicht abschließend. Weitere Indizien, die für eine Selbständigkeit sprechen sollen, sind möglich. Dabei müssen nicht alle auf­ge­führten Kriterien parallel erfüllt werden. Das heißt, das Nichtvorliegen eines oder mehrerer dieser Kriterien ist kein Ausschlussgrund für eine selbständige Tätigkeit. Allerdings muss in der Ge­samt­be­trach­tung der Tätigkeit ein über­wiegendes Gewicht für eine selb­stän­di­ge Tä­tig­keit sprechen.

Mustervertrag soll kommen

Derzeit wird fortlaufend an einem sog. Mustervertrag für selbständige Tätigkeit gearbeitet. Dazu ist immer eine intensive Einzelfallberatung erforderlich, denn welches Ver­trags­werk auch immer vereinbart wird, letztlich ist das tatsächlich gelebte Dienstverhältnis für die Beurteilung entscheidend. Jedes Ver­trags­ver­hältnis muss auf die Verhältnisse und Be­dürf­nis­se der jeweiligen Musik­schu­le/des Musikinstituts und der Lehrkraft zu­ge­schnit­ten werden, die den selbständigen Erwerbsstatus bevorzugt.

Einschätzung

Wenn man die aktuelle Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes auf­merksam beobachtet, so wird deutlich, dass im Wesentlichen auf die beiden Merkmale „Eingliederung in eine fremde Arbeitsorganisation“ und „un­ter­neh­meri­sches Auftreten am Markt“ bei der sozialversicherungs­recht­lichen Be­ur­tei­lung abgestellt wird.

Daher sollte zum einen darauf geachtet werden, dass keine Eingliederung in die Arbeitsorganisation der Bildungseinrichtungen in Form von verpflichtender Teilnahme an Konferenzen und sonstigen organisatorischen Veranstaltungen vor­liegt.

Zum anderen wird das unternehmerische Auftreten am Markt durch eine mögliche Ausschließlichkeitsklausel regelmäßig von den Gerichten verneint. Eine solche sollte daher nicht vereinbart werden, wenn eine selbstständige Tätigkeit gewünscht ist.

Ausblick und Beratungshinweis

Wie im Herrenberg-Urteil deutlich gemacht, wird die sozialversicherungs-rechtliche Sta­tus­beurteilung zukünftig für alle Berufsgruppen ausschließlich nach den Kriterien des § 7 SGB IV erfolgen. Bestimmten Berufsgruppen wird daher kein normativer Charakter dergestalt mehr zugesprochen, als dass diese im Vorhinein als selbständige anerkannt werden. Bei Honorarkräften (Free­lancer) ist daher immer zwingend auf die beiden oben genannten wesentlichen Kriterien „Eingliederung in eine fremde Arbeitsorganisation“ und „Un­ter­neh­me­risches Auftreten am Markt“ abzustellen. Dabei muss immer die Frage gestellt werden, inwieweit ein externer Dritter (potenzieller Neukunde) die zu be­ur­tei­len­de Person am freien Markt als echten Selbstständigen erkennen kann.

Praxishinweis

Im Seminar „Die Betriebsprüfung durch die Deutsche Rentenversicherung“ stellen wir aktueller Prüf­schwer­punk­te sowie typischer Be­an­stan­dungen der So­zial­ver­siche­rungs­prüfung dar. Aktuelle Praxistipps und Beratungs­hin­weise zur Be­triebs­­prü­­fung der Deut­schen Ren­ten­ver­siche­rung runden dieses Praxis­seminar ab. Das Seminar findet am 21.5.2025 von 9.00 bis 11.30 Uhr als Webinar statt.


Fußnoten anzeigen


  1.  ]Siehe Seminarskript Arbeitslohn 2025 S. 28ff.
  2.  ]Besprechung der Spitzenverbände über Fragen des gemeinsamen Beitragseinzugs vom 4.5.2023 - TOP 1.
  3.  ]Besprechung der Spitzenverbände über Fragen des gemeinsamen Beitragseinzugs vom 4.5.2023 - TOP 1.