Neufang Akademie

nach oben

Lockdown und Minijobber: Entsteht Phantomlohn bei einer pandemiebedingten Betriebsschließung?

Kategoriegrafik
Gericht / Az:
BAG, Urteil vom 13.10.2021 5 AZR 211/21
Fundstelle:
juris
Gesetz:
§ 22 SGB IV

Betriebsrisikolehre § 615 BGB

Arbeitgeber sind zur Entgeltzahlung verpflichtet, wenn der Arbeitnehmer ar­beits­fähig und arbeitsbereit ist, eine Beschäftigung jedoch aufgrund von Ums­tän­den nicht ausgeübt werden kann, die in der betrieblichen Sphäre des Arbeitgebers liegen (sog. Betriebsrisikolehre, § 615 Satz 3 BGB). § 615 BGB in der seit 1.1.2002 geltenden Fassung regelt die Vergütung bei Annahme­ver­zug und bei Betriebsrisiko wie folgt:

„Satz 1: Kommt der Dienstberechtigte mit der Annahme der Dienste in Verzug, so kann der Verpflichtete für die infolge des Verzugs nicht geleisteten Dienste die vereinbarte Vergütung verlangen, ohne zur Nachleistung verpflichtet zu sein.

Satz 3: Die Sätze 1 und 2 gelten entsprechend in den Fällen, in denen der Arbeitgeber das Risiko des Arbeitsausfalls trägt.“

Dies gilt auch für Minijobber

In diesem Fall haben auch geringfügig Beschäftigte einen Anspruch auf Ent­­gelt­fort­zahl­ungs­an­spruch, solange das Arbeitsverhältnis fortbesteht und nicht z. B. aufgrund einer Be­fris­tung beendet wurde. Ein Anspruch auf Kurzarbeiter­geld besteht für geringfügig Be­schäf­tig­te nicht.

Pandemiebedingte Schließung war bisher Betriebsrisiko

Ist die vorübergehende Betriebsschließung darauf zurückzuführen, dass beim Arbeitgeber pandemiebedingt z. B. aufgrund einer behördlichen Anordnung er­heb­liche Personal- oder Versorgungsengpässe aufgetreten sind, ist grund­sätz­lich davon auszugehen, dass sich das in der betrieblichen Sphäre des Ar­beitgebers liegende Risiko realisiert hat und ein Entgeltanspruch der ge­ring­fü­gig Beschäftigten besteht. Dies galt z. B. für geringfügig Beschäftigte bei einer pandemiebedingten Schließung eines Tanzlokals oder einer Ver­kaufs­stel­le des Fachhandels.

Achtung: Phantomlohn

Wird ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung für geringfügig Beschäftigte im Zu­sam­men­hang mit der Betriebsrisikolehre bejaht, ist wegen Fortbestands des Be­schäftigungsverhältnisses beitragsrechtlich zu prüfen, ob Beitragsnachfor­derun­gen festzustellen sind (An­spruchs­prin­zip, § 22 SGB IV).

Ausnahme: Unbezahlter Urlaub

Kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung besteht hingegen, wenn zwischen dem Ar­beitgeber und dem geringfügig Beschäftigten vereinbart wurde, dass wäh­rend der pandemiebedingten Betriebsschließung ein unbezahlter Urlaub ge­nom­men wird.

Zwischenzeitlich hat das BAG in folgendem Revisionsfall wie folgt entschie­den:

Sachverhalt

Ausgangsfall

Eine Mitarbeiterin ist seit Oktober 2019 als geringfügig Beschäftigte gegen ein monatliches Arbeitsentgelt von 432 € im Verkauf eines Ladengeschäfts tätig. Im April 2020 war das Ladengeschäft aufgrund der „Allgemeinverfügung über das Verbot von Veranstaltungen, Zusammenkünften und der Öffnung bestimmter Be­triebe zur Eindämmung des Coronavirus“ geschlossen. Deshalb konnte die ge­ringfügig beschäftigte Mitarbeiterin nicht arbeiten und erhielt auch keine Ver­gü­tung. Mit ihrer Klage vor dem Arbeitsgericht begehrte sie die Zahlung ihres Entgelts für den Monat April 2020 unter dem Gesichtspunkt des Annahme­ver­zugs. Sie stützte sich dabei auf das Argument, die Schließung des Betriebs aufgrund behörd­licher Anordnung sei ein Fall des von der Arbeitgeberin zu tragenden Betriebsrisikos.

Stellungnahme

Das BAG1 entschied jedoch im Re­vi­sionsfall - anders noch als die Vorinstanzen2-, dass die Minijobberin für den Monat April 2020, in dem ihre Arbeitsleistung und deren Annahme durch die Arbeitgeberin aufgrund der behördlich angeordneten Be­triebs­schließ­ung unmöglich war, keinen Anspruch auf Entgeltzahlung unter dem Ge­sichts­punkt des Annahmeverzugs hat.

Begründung des BAG

BAG: Grds. kein Phantom-lohn bei pandemie-bedingtem Lockdown

„Der Arbeitgeber trägt auch nicht das Risiko des Arbeitsausfalls, wenn wie hier zum Schutz der Bevölkerung vor schweren und tödlichen Krankheitsverläufen in­folge von SARS-CoV-2-Infektionen durch behördliche Anordnung in einem Bun­desland die sozialen Kontakte auf ein Minimum reduziert und nahezu flä­chen­deckend alle nicht für die Versorgung der Bevölkerung notwendigen Ein­rich­tungen geschlossen werden. In einem solchen Fall realisiert sich nicht ein in einem bestimmten Betrieb angelegtes Betriebsrisiko. Die Unmöglichkeit der Ar­beits­leistung ist vielmehr Folge eines hoheitlichen Eingriffs zur Bekämpfung einer die Gesellschaft insgesamt treffenden Gefahrenlage. Es ist Sache des Staates, gegebenenfalls für einen adä­qua­ten Ausgleich der den Beschäftigten durch den hoheitlichen Eingriff entstehen­den finanziellen Nachteil […] zu sorgen. […] Aus dem Fehlen nachgelagerter An­sprüche lässt sich jedoch keine arbeitsrechtliche Zahlungspflicht des Arbeitgebers herleiten.“

Differenzierte Beurteilung gilt es jedoch abzuwarten

Weil das Urteil des Bundesarbeitsgerichts derzeit noch nicht im vollen Wortlaut vorliegt, kann eine abschließende Beurteilung noch nicht erfolgen. U. E. ist für den Anspruch auf einen Annahme­ver­zugslohn durchaus zu differenzieren, aufgrund welcher Maßnahmen die Be­triebstätigkeit eingestellt wurde.

Einschätzung

Die Entscheidung des BAG ist überraschend und weicht von der bisherigen Rechtsprechung der Arbeitsgerichte und Landesarbeitsgerichte ab. Soweit man es der knappen Pressemitteilung entnehmen kann, gelten die Aussagen des BAG wohl für solche behördliche Einschränkungen, die abgesehen von ver­sorgungsnotwendigen Ausnahmen unterschiedslos alle Betriebe und Ein­rich­tun­gen betreffen. Einen solchen „harten Lockdown“ gab es aber nur im April und Mai 2020. Die späteren Maßnahmen im Winter 2020/2021 waren von vornherein stärker begrenzt und zielten nur auf bestimmte Betriebe und Dienst­leistungen. Die Inhaber der davon betroffenen Betriebe müssen daher mög­licherweise auch nach Ansicht des BAG Annahmeverzugslohn für die Dauer betrieblicher Einschränkungen im Winter 2020/2021 und danach zah­len. Hier ist ein stärkerer Bezug zu speziellen Leistungen und Kundenbe­ziehungen gegeben, so dass sich hier unter Umständen doch ein in einem bestimmten Betrieb angelegtes Betriebsrisiko verwirklicht.


Fußnoten anzeigen


  1.  ]BAG, Urteil v. 13.10.2021 5 AZR 211/21.
  2.  ]LAG NI, Urteil v. 23.3.2021 11 Sa 1062/20.