- Gericht / Az:
- EuGH, Urteile vom 1.12.2022 C-269/20 und C-141/20
- Fundstelle:
- https://curia.europa.eu/
- Gesetz:
- § 2 Abs. 2 UStG
- Problemstellung:
-
Welche Änderungen kommen auf Deutschland im Bezug auf die umsatzsteuerrechtlichen Organschaften zu?
Organschaft
Im Dezember 2022 hat der EuGH zwei Vorabentscheidungsersuchen des BFH entschieden.
Praxishinweis
Ausführlich werden wir diese Änderung im Seminar Veranlagung 2022 darstellen. Die Seminare finden im Zeitraum 23.1.2023 bis 1.2.2023 statt. Eine Buchung des Seminars ist über unsere Homepage möglich: https://www.neufang-akademie.de/online-seminar-veranlagung-2022
1. | Stimmrechtsmehrmehrheit und Rechtsfolgen? |
Die erste vom EuGH beurteilte Vorlage1 stammte vom XI. Senat des BFH.
Sachverhalt
Die Beteiligten streiten darüber, ob im nachfolgenden Fall eine Organgesellschaft besteht.
Gesellschafter einer Z-GmbH sind die A-GmbH (zu 51 %) und der C e.V. (zu 49 %). Alleiniger Geschäftsführer der Z-GmbH ist E, der zugleich alleiniger Geschäftsführer der A-GmbH und geschäftsführender Vorstand des C e.V. ist. Grundsätzlich liegt damit eine Organschaft vor; Träger ist die A-GmbH, in den u. a. die Z-GmbH finanziell eingegliedert ist (Anteilsmehrheit). Die organisatorische Eingliederung ist durch Geschäftsführungsidentität ebenfalls gegeben. Die wirtschaftliche Eingliederung sei unterstellt.
Besonderheit des Streitfalls: Nach dem Gesellschaftsvertrag verfügt die A-GmbH zwar über die Anteilsmehrheit, jedoch nicht über die Stimmrechtsmehrheit. Dies war letztlich die entscheidende Frage: Ist eine Anteilsmehrheit für die finanzielle Eingliederung ausreichend oder muss auf die Stimmrechte abgestellt werden?
Der EuGH entschied insoweit verkürzt:
Leitsatz
Lösung des EuGH
Der EuGH bestätigt mit seinen Antworten die deutschen Vorschriften zum Verständnis einer Bildung einer Organschaft u. E. weitgehend. Er wählt zwar nicht den Weg (siehe obige Antwort 3), einer Gesellschaft die Selbständigkeit oder Unabhängigkeit gänzlich abzusprechen. Er erlaubt es aber (siehe Antworten 1 und 2), dass Deutschland den Organträger als Stellvertreter der Gruppe zum (alleinigen) Steuerpflichtigen bestimmt, wenn die Voraussetzungen einer Organschaft vorliegen.
Mit seinen Antworten mahnt der EuGH nach unserem Verständnis aber eine Lockerung der bisherigen BFH-Rechtsprechung zur finanziellen Eingliederung an. Das Merkmal der finanziellen Beziehungen darf nicht restriktiv ausgelegt werden. Eine solche erfordert nach Auffassung des EuGH bei bestehender Anteilsmehrheit nicht zusätzlich das Vorliegen einer Stimmrechtsmehrheit.
Der BFH hat das Verfahren wieder aufgenommen2. Mit einer baldigen Nachfolgeentscheidung darf gerechnet werden.
2. | Rechtsfolge und „Entnahme“ in den hoheitlichen Bereich? |
Ebenfalls entschieden hat der EuGH über eine Vorlage des V. Senats3 des BFH.
Sachverhalt
Der Fall stellte sich vereinfacht wie folgt dar: Die O-GmbH ist Trägerin einer Organschaft (im Streitfall u. a. Trägerin einer Universität mit Universitätsklinikum). Innerhalb des Organkreises wurden Leistungen für den unternehmerischen Teil, aber auch für den hoheitlichen Teil (im Streitfall: Ausbildungsteil eines Universitätsklinikums) erbracht. Für die Innenumsätze an den hoheitlichen Bereich (z. B. Nutzung der Hörsäle) setzte die Finanzbehörde, und dies war der Streitgegenstand, unentgeltliche Wertabgaben an.
Der EuGH entschied insoweit verkürzt:
Leitsätze
Lösung des EuGH
Was passiert bei Innenumsätzen?
Zu „Problemen“ könnte u. E. führen, dass die Ausführungen des EuGH dazu, dass die O-GmbH an die Klägerin Dienstleistungen gegen Entgelt erbracht hat6, zu Missverständnissen im Hinblick auf die Behandlung der Innenumsätze einladen. Entsprechend unterschiedlich fallen die ersten Deutungen zu dieser Frage im Schriftum aus7.
Organgesellschaft ist keine Unter-nehmerin
Die Steuerpflicht des Organträgers erstreckt sich zwar auf die Leistungen, die von allen Mitgliedern und an alle Mitglieder der Mehrwertsteuergruppe erbracht werden, und die sich daraus ergebende Steuerschuld sämtliche dieser Leistungen umfasst8. Nach Art. 2 Abs. 1 MwStSystRL unterliegen der Mehrwertsteuer aber nur Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt. Dies ist bei Innenumsätzen nicht der Fall, weil die Organgesellschaft als untergeordnete Einheit nicht als Steuerpflichtige gilt9 und die Verschmelzung zu einem einzigen Steuerpflichtigen es ausschließt, dass die Mitglieder der Mehrwertsteuergruppe innerhalb und außerhalb ihrer Gruppe weiter als Steuerpflichtige angesehen werden10. Die Umsetzung von Art. 11 MwStSystRL ist deshalb von der Einführung eines Systems vereinfachter Erklärung und Zahlung der Mehrwertsteuer zu unterscheiden11.
Praxishinweis
Es mag sich deshalb bei den Leistungen zwar um Dienstleistungen „gegen Entgelt“ handeln. Sie werden aber nicht von einem Steuerpflichtigen erbracht und sind daher nicht steuerbar. Von der Option der Art. 18, 27 MwStSystRL hat Deutschland keinen Gebrauch gemacht.
Vor den Schlussan-trägen der General-anwältin Medina war die Nichtsteuerbar-keit unionsrechtlich unumstritten
Diese Sichtweise entspricht im Übrigen der Auffassung der Kommission12 sowie der Generalanwälte van Gerven13 und Jääskinen14: Wegen ihrer finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Verbundenheit sind die Gruppenmitglieder bei der Anwendung der Mehrwertsteuer als eine Einheit zu behandeln, so dass die Umsätze zwischen den beiden Einheiten kein Anlass für die Erhebung oder Verrechnung von Mehrwertsteuer sind. Umsätze, die zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gruppe bewirkt werden und somit innerhalb der Gruppe verbleiben, gelten als Insichgeschäfte der Gruppe. Die gruppeninternen Umsätze sind demzufolge mehrwertsteuerrechtlich nicht existent. Sie liegen „außerhalb des Geltungsbereichs”.
Praxishinweise
Nationales Recht könnte andernfalls günstiger sein
Fußnoten anzeigen ↓
- [ ↑ ]BFH, Beschluss v. 11.12.2019 XI R 16/18, BFH/NV 2020 S. 598; EuGH, Urteil v. 1.12.2022 C-141/20 (Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie), DStR 2022 S. 2481.
- [ ↑ ]Az.: XI R 29/22 (XI R 16/18).
- [ ↑ ]BFH, Beschluss v. 7.5.2020 V R 40/19, BFH/NV 2020 S. 839; EuGH, Urteil v. 1.12.2022 C-269/20 (Finanzamt T), DStR 2022 S. 2488.
- [ ↑ ]EuGH, Urteil v. 12.2.2009 C-515/07 (Vereniging Noordelijke Land- en Tuinbouw Organisatie), DStR 2009 S. 369.
- [ ↑ ]EuGH, Urteil v. 15.9.2016 C-400/15 (Landkreis Potsdam-Mittelmark), DStR 2016 S. 2219.
- [ ↑ ]EuGH, Urteil v. 1.12.2022 C-269/20 (Finanzamt T), DStR 2022 S. 2488, Rz 60 ff.
- [ ↑ ]Siehe nur vollkommen divergierend Ismer/Endres-Reich, Oelamier und Sterzinger, MwStR 2022 S. 887 ff.; Wüst, UR 2023 S. 1; Monfort, UR 2023 S. 25; Küffner, UR 2023 S. 36.
- [ ↑ ]EuGH, Urteil v. 1.12.2022 C-269/20 (Finanzamt T), DStR 2022 S. 2488, Rz. 51.
- [ ↑ ]EuGH, Urteil v. 1.12.2022 C-269/20 (Finanzamt T), DStR 2022 S. 2488, Rz. 39.
- [ ↑ ]EuGH, Urteil v. 1.12.2022 C-269/20 (Finanzamt T), DStR 2022 S. 2488, Rz 40.
- [ ↑ ]EuGH, Urteil v. 22.5.2008 C-162/07 (Ampliscientifica und Amplifin), BFH/NV 2008, Beilage 3 S. 217, Rz. 21.
- [ ↑ ]Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Option der Mehrwertsteuer-Gruppe gem. Art. 11 MwStSystRL (nationale Organschaftsregelungen), UR 2009 S. 632, Tz. 3.4.3.
- [ ↑ ]Schlussanträge des Generalanwalts Van Gerven v. 24.4.1991 C-60/90; Polysar Investments Netherlands BV, EU:C:1991:171, Rz. 9.
- [ ↑ ]Schlussanträge v. 27.11.2012 C-85/11, Kommission/Irland, EU:C:2012:753, Rz 42, 45 und 47 bis 49; v. 27.11.2012 C-480/10, Kommission/Schweden, EU:C:2012:751, Rz 40, 44 und 45.