- Gericht / Az:
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BFH, Urteil vom 5.4.2022 IX R 19/20
- Fundstelle:
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BFH/NV 2022 S. 977
- Gesetz:
- § 17 EStG
Zweimalige Absenkung der Wesentlichkeitsschwelle
Die Wesentlichkeitsschwelle bei § 17 EStG wurde in der Vergangenheit durch den Gesetzgeber in zwei Stufen abgesenkt. Zum 31.3.1999 wurde die Schwelle der Mindestbeteiligung von mehr als 25 % auf nur noch mindestens 10 % gemindert; seit dem 1.1.2002 genügt eine Beteiligung von mindestens 1 %. Diese Änderungen führten dazu, dass Anteile an Kapitalgesellschaften ggf. erstmalig steuerverstrickt wurden, d. h. bei der Veräußerung § 17 EStG unterliegen.
Vermeidung von echter Rückwirkung
Um eine verfassungsrechtlich unzulässige echte Rückwirkung zu vermeiden, sind Wertsteigerungen bis zu den o. g. Zeitpunkten steuerfrei, falls eine Verstrickung durch eine Absenkung der Wesentlichkeitsschwelle eingetreten ist. Erst für die Zeit ab der Verstrickung sind Wertsteigerungen steuerbar.
Kann ein rechnerischer Verlust steuerlich relevant sein?
Sinkt aber der Wert der Anteile nach dem Erreichen der Wesentlichkeitsschwelle und wird auch bei der tatsächlichen Veräußerung nicht wieder erreicht, stellt sich die Frage, ob ein rechnerischer Verlust (d. h. isoliert betrachtet für die Phase der Steuerbarkeit) steuerlich zu berücksichtigen ist. Ausgangspunkt der Argumentation ist, dass der Wertverfall ausschließlich auf die steuerbare Zeit entfällt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die ausführliche Urteilsbesprechung der Vorinstanz1 in BerP 6/2021 S. 350 ff. verwiesen.
Es liegt kein realisierter Verlust vor
Wie das FG Köln verneint der BFH eine Verlustberücksichtigung. Es handelt sich nicht um einen tatsächlich realisierten und damit erlittenen Verlust. Dem Vertrauensschutz ist Genüge getan, wenn die Wertsteigerung vor der Absenkung der Wesentlichkeitsschwelle von der Besteuerung ausgenommen wird2. Der anschließende Wertverfall ist unbeachtlich. Im Ergebnis entsteht steuerrechtlich weder ein Gewinn noch ein Verlust.
Praxishinweis
Damit sich die Frage wie im Streitfall überhaupt stellt, muss ein Anteilswert zum 31.3.1999 bzw. 31.12.2001 ermittelbar sein und ggf. hierüber eine tatsächliche Verständigung erzielt werden. Ansonsten wird der Wertzuwachs bzw. Wertverlust über die Haltedauer linear verteilt und anteilig der steuerbaren und der nicht steuerbaren Phase zugewiesen3.