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Verfassungsmäßigkeit der Säumniszuschläge

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Gericht / Az:
BFH, Urteil vom 23.08.2022 VII R 21/21
Fundstelle:
juris
Gesetz:
§ 240 AO
Problemstellung:
Ist die Regelung der Säumniszuschläge mit Verfassungsrecht im Einklang.

Abrechnungsbescheid/ Duldungsbescheid erforderlich

Säumniszuschläge entstehen kraft Gesetzes; sie werden nicht festge­setzt. Bei einem Streit über die Verwirkung der Säumniszuschläge ist daher der Erlass eines Ab­rech­nungs­be­scheids nach § 218 Abs. 2 Satz 1 AO erforderlich. Dieser ist sodann an­zu­fech­ten. Im Klageverfahren vor dem BFH war dies ausnahmsweise nicht erforderlich, weil sich die Klägerin gegen einen Duldungsbescheid zur Wehr setzte, der auch die Zahlung von Säumniszuschlägen umfasste.

Der VII. Senat verneint jedoch verfassungsrechtliche Zweifel an der Regelung des § 240 AO.

BVerfG Entscheidung zur Vollverzinsung ist nicht anwendbar

Das BVerfG hat ausdrücklich nur über die Verfassungsmäßigkeit der Nachzahlungszinsen gem. §§ 233a, 238 AO entschieden. Die vom BVerfG1 herausgearbeiteten Grundsätze zur Verfassungswidrigkeit der Vollverzinsung sind nicht auf Säumniszuschläge übertragbar.

Die der Entscheidung des BVerfG zugrundeliegende Ungleichbehandlung der Steu­er­pflich­ti­gen ist in der im Gesetz geregel­ten fünfzehnmonatigen Karenzzeit begründet. Diese bewirkt eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung zinszahlungspflichtiger ge­gen­über nicht zinszahlungspflichtigen Steuerschuldnern2.

Dagegen ist die Frage, ob ein Zinssatz von monatlich 0,5 % den durch eine Vollverzinsung zulasten der Steuerpflichtigen auszugleichenden Vorteil der Höhe nach realitätsgerecht abbildet, erst in der anschließenden Rechtferti­gungsprüfung den strengeren Ver­hält­nis­mä­ßig­keits­an­for­de­run­gen unterworfen (und verworfen) worden3.

Keine Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 GG

Der VII. Senat lehnt bereits einen Verstoß gegen das Gebot der Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG ab. Denn hinsichtlich der Säumniszuschläge fehlt es an einer Ungleichbe­handlung vergleichbarer Sachverhalte. Eine Ungleichbehandlung zwischen zinszahlungspflichtigen Steuernachzahlern und säumniszuschlagszahlungs­pflichtigen Steuerpflichtigen ist mangels vergleichbarer Sachverhalte nicht ge­geben. Die Gruppe der Steuerpflichtigen, die Säumniszuschläge entrichten müssten, wird gleich behandelt.

Vollverzinsung schöpft Liquiditätsvorteile ab

Die nach § 233a AO geregelte Vollverzinsung soll typisierend objekti­ve Zins- und Liquiditätsvorteile erfassen, die dadurch entstehen, dass zwi­schen der Entstehung des Steueranspruchs und seiner Fälligkeit nach Festset­zung ein Zeitraum von mehreren Jahren liegen kann. Nachzahlungszinsen sind weder Sanktion noch Druckmittel, sondern ein Aus­gleich für die Kapitalnutzung. Die Vollverzinsung hat keine zusätzliche Len­kungsfunktion dahingehend, die Steuerpflichtigen dazu anzuhalten, ihre Steu­ererklärungen frühzeitig abzugeben oder etwaige Vorauszahlungen angemes­sen ansetzen zu lassen. Darauf, ob tatsächlich ein Zinsvor- oder ‑nachteil durch die späte Steuerfestsetzung erzielt worden ist, kommt es nicht an. Auch die Gründe für die späte Steuerfestsetzung sind für die Anwendung des § 233a AO unerheblich, denn die Vollverzinsung entsteht unabhän­gig vom Verhalten der Steuerpflichtigen.

Mehrfunktionalität der Säumniszuschläge

Im Gegensatz zur Vollverzinsung aber haben Säumniszuschläge mehrere Funktionen. Der im Vergleich zu den Zinsen doppelt so hohe Säumniszuschlag ist in erster Linie ein Druckmittel eigener Art zur Durchset­zung fälliger Steuern und erfüllt primär eine pönale Funktion. § 240 AO ver­folgt das Ziel, den Bürger zur zeitnahen Erfüllung seiner Zahlungsverpflichtun­gen anzuhalten und die Verletzung eben jener Verpflichtung zu sanktionieren4. Daneben ist der Säumniszuschlag Gegenleistung bzw. Ausgleich für das Hin­ausschieben der Zahlung fälliger Steuern und dient letztlich auch dem Zweck, den Verwaltungsaufwand der Finanzbehörden auszugleichen5. Die Abschöpfung von Liquiditätsvorteilen ist damit nicht Haupt‑, sondern nur Nebenzweck der Regelung6.

Keine Übertragung der Entscheidungsgrundsätze zur Vollverzinsung

Die Entscheidungsgrundsätze zur Vollverzinsung sind auch deshalb nicht auf die Regelung zu Säumniszuschlägen übertragbar, weil diese erst bei Nichtzahlung nach Fäl­ligkeit erfolgt und die Entstehung dieser Zuschläge vom Steuerpflichtigen bewusst in Kauf genommen werden. Diese haben die Wahl, ob sie den Zinstatbestand verwirklichen oder ob sie die Steuerschuld tilgen und sich im Bedarfsfall die erforderlichen Geldmittel zur Begleichung der Steuerschuld anderweitig zu zinsgünstigeren Konditionen beschaffen7. Damit liegt auch insoweit kein vergleichbarer Sachverhalt zwischen zinszah­lungspflichtigen Steu­er­pflich­ti­gen nach § 233a AO und säumniszuschlagspflich­tigen Steuerschuldnern nach § 240 AO vor.

Nichtberücksichtigung des Niedrigzinsniveaus uner-heblich

Allein der Umstand, dass bei Säumniszuschlagspflichtigen anders als bei zins­zah­lungs­pflich­ti­gen Steuernachzahlern das strukturelle Niedrigzinsni­veau seit 2014 nicht berücksichtigt wird, genügt für eine Vergleichbarkeit der zwei Gruppen nicht.

Auch innerhalb der Gruppe der Säumniszuschlagspflichtigen ist kei­ne Ungleichbehandlung gegeben.

Kein Verstoß gegen Übermaßverbot

Die Höhe des Säumniszuschlags verstößt auch nicht gegen das Übermaßverbot als Aus­ge­stal­tung des Rechtsstaatsprin­zips nach Art. 20 Abs. 3 GG. Zwar darf ein Steu­er­pflich­ti­ger nicht zu einer unverhält­nismäßigen Abgabe herangezogen werden8. Die Höhe des Säumniszuschlags ist auch in einer Niedrigzinsphase durch den vom Gesetzgeber in­ten­dier­ten Zweck der Norm gedeckt.

Vergleichsmaßstab Zinsen für Kontoüberziehung

Der historische Gesetzgeber begründete die Höhe des Säumniszuschlags von einem Prozent pro angefangenen Monat damit, dass die Höhe der Kre­ditkosten nicht außer Acht gelassen werden kann, weil sonst die Gefahr besteht, dass Steuerpflichtige die Steuerzahlungen hinausschöben, weil diese Art der Finanzierung billiger ist als ein Kredit auf dem Geldmarkt9. Dabei sind die Kreditkosten für Kontoüberziehungen der Vergleichsmaßstab. Diese haben im Herbst 1960 im Bundesge­biet jährlich 11 % betragen10. Unter diesen Umständen erschien dem Gesetzgeber der Zuschlag eines Prozents für jeden angefangenen Monat als angemessen. An dieser Ausgangslage hat sich in Bezug auf den Zinssatz für Kontoüberziehungen bis heute nichts geändert11.

Keine Orientierung an Verzugszinsen

Der Senat lehnt damit die Auffassung der Literatur12 ab, nach der sich die Höhe der Säumniszuschläge an der Höhe der Verzugszinsen des BGB zu orientieren hat. Auch soweit die Literatur13 davon ausgeht, dass die Zuschläge eine (sekundären) Zinscharakter enthalten, folgt der BFH dieser Auffassung nicht. Diese Auffassung verkennt den primären Zweck des Säumniszuschlags, die Erzeugung von Druck auf die Steuerpflichtigen, die Steuer bis zur Fälligkeit zu zahlen, in ihr Gegenteil, nämlich der Gewährung eines Kredites gegen Entgelt.

Säumniszuschlag nicht als Zins in der AO geregelt

Säumniszuschläge sind in der AO auch nicht unter den Vorschriften der Verzinsung von Steuerforderungen geregelt. Zwar sind die Vorschriften über Zinsen und Säumniszuschläge im selben (Haupt‑) Abschnitt enthalten. Der Säumniszuschlag ist aber in einem eigenen Unterabschnitt im Zweiten Abschnitt „Verzinsung, Säumniszuschläge“ des Fünften Teils der AO „Erhebungsverfahren“ geregelt und gerade nicht als Zinstatbestand im Unter­abschnitt „Verzinsung“. Den verschiedenen Regelungen in diesem Hauptab­schnitt lässt sich kein systematischer Zusammenhang dahingehend entneh­men, dass Zinsen und Säum­nis­zu­schlä­ge wesentlich mehr verbindet, als dass es sich um steuerliche Ne­ben­leis­tun­gen im Rah­men der Erhebung handelt (§ 3 Abs. 4 Nr. 4 und 5 AO).

Säumniszuschläge sind keine originären Zinsen

Gerade die Formulierungen „Zinsersatz“, „Zinscharakter“ und andere in der Literatur und Rechtsprechung zur Bezeichnung von Säumniszu­schlägen verwendete Begriffe zeigen, dass es sich bei Säumniszuschlägen um Nebenleistungen handelt, die zwar Eigenschaften von Zinsen teilen, aber selbst gerade keine Zinsen sind.

Kein konkreter Zinsanteil enthalten

Auch lässt sich beim Säumniszuschlag kein konkreter Anteil bestimmen, der als Zins behandelt werden könnte. Einen solchen Anteil haben we­der der Gesetzgeber noch die Rechtsprechung dem Säumniszuschlag bisher zugewiesen. Zwar hat die Rechtsprechung im Rahmen der Ermessensent­scheidung über einen Billigkeitserlass von Säumniszuschlägen bei Zahlungsun­fähigkeit dem Druckmittelcharakter der Säumniszuschläge einen Anteil von 50 % zugemessen14. Aus dieser Entscheidung kann jedoch nicht ein fester, typisierter Zinsanteil von 6 % hergeleitet werden. Weil sich dem Gesetz danach ein fester und typisierender Zinssatz entnehmen lässt, fehlt es an einer festen Größe eines Zinssatzes, die auf ihre Angemessenheit hin überprüft werden könnte.

Zuschlag zur Erzwingung der rechtzeitigen Zahlung ist gerechtfertigt

Eine Verfassungswidrigkeit der Norm ergibt sich auch nicht aus der Höhe von einem Prozent für jeden angefangenen Monat der Säumnis. Denn ein solcher Zuschlag ist bereits allein zur Erzwingung der rechtzeitigen Zahlung der fälligen Steuer und zur Abgeltung des Ver­wal­tungs­auf­wands verhältnismäßig und da­her verfassungsrechtlich unbedenklich.

Bei dieser Beurteilung ist der weite Bewertungsspielraum des Gesetzgebers zu be­rück­sich­ti­gen. Gerade die Ausführungen des historischen Gesetzgebers machen deutlich, dass er sich dieses Spielraums bewusst war und ihn nicht überschritten hat.

Praxishinweis

Ob gegen diese Entscheidung Verfassungsbeschwerde erhoben wird, ist derzeit nicht bekannt. In einem Nichtannahmebeschluss hat das BVerfG darauf hingewiesen, dass Säumniszuschläge auch der Erzwingung der rechtzeitigen Zahlung dienen sollen und daher gerechtfertigt sein könnten.


Fußnoten anzeigen


  1.  ]BVerfG, Beschluss v. 8.7.2021 1 BvR 2237/14, BGBl 2021 I S. 4303.
  2.  ]BVerfG, Beschluss v. 8.7.2021 1 BvR 2237/14, BGBl 2021 I S. 4303, Rz 105.
  3.  ]BVerfG, Beschluss v. 8.7.2021 1 BvR 2237/14, BGBl 2021 I S. 4303, Rz 109 ff. und 116 ff.
  4.  ]Ebenso BVerfG, Kammerbeschluss v. 4.5.2022 2 BvL 1/22, BFH/NV 2022 S. 895.
  5.  ]BFH, Urteile v. 29.8.1991 V R 78/86, BStBl 1991 II S. 906; v. 30.3.2006 V R 2/04, BStBl 2006 II S. 612; BFH, Beschluss v. 2.3.2017 II B 33/16, BStBl 2017 II S. 646.
  6.  ]BVerfG, Beschluss v. 8.7.2021 1 BvR 2237/14, BGBl 2021 I S. 4303, Rz 7.
  7.  ]BVerfG, Beschluss v. 8.7.2021 1 BvR 2237/14, BGBl 2021 I S. 4303, Rz. 243.
  8.  ]BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 3.9.2009 1 BvR 2539/07, BFH/NV 2009 S. 2115.
  9.  ]BT-Drucksache v. 4.3.1961 3/2573, S. 34.
  10.  ]Monatsberichte der Deutschen Bundesbank für Oktober 1960, S. 98.
  11.  ]BT-Drucksache v. 23.2.2021 19/26890, S. 1.
  12.  ]Seer, DB 2022 S. 1975, 1802 f.; Romswinkel, Der Steuerberater 2021 S. 101, 104.
  13.  ]Steck, Deutsche Steuer-Zeitung 2019 S. 143, 146.
  14.  ]BFH, Beschluss v. 14.1.2002 XI B 146/00, juris.