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Generalanwältin beim EuGH: Deutsche Organschaft in weiterem Punkt unionsrechtswidrig

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Gericht / Az:
Generalanwältin Medina, Schlussanträge vom 13.1.2022 C-141/20
Fundstelle:
EU:C:2022:11
Gesetz:
§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG
Streitfrage:
Darf Deutschland den Organträger zum Steuerpflichtigen anstelle der Mehr­wert­steuergruppe bestimmen?

Die deutsche Organschaft in ihrer bisherigen Form wackelt. Generalanwältin Medina hat in ihren Schlussanträgen im Verfahren „Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie“ (C-141/20) folgende Auffassung vertreten:

Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 Richtlinie 77/388/EWG (jetzt: Art. 11 MwStSystRL) ist dahin aus­zu­le­gen, dass er es gestattet, eng miteinander verbundene Personen, die einer Mehr­wert­steu­er­grup­pe angehören, für die Zwecke der Erfüllung der Mehr­wert­steu­er­pflich­ten als einen einzigen Steuerpflichtigen anzusehen.
Diese Bestimmung ist jedoch dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mit­glied­staats entgegensteht, die nur das die Gruppe beherrschende Mitglied - das über die Mehr­heit der Stimmrechte und über eine Mehrheitsbeteiligung am beherrschten Un­ter­nehmen in der Gruppe der steuerpflichtigen Personen verfügt – unter Ausschluss der üb­ri­gen Mitglieder der Gruppe als Vertreter der Mehrwertsteuergruppe und als Steu­er­pflich­ti­gen dieser Gruppe bestimmt.

Mit anderen Worten: Deutschland darf ihrer Meinung nach nicht vorsehen, dass nur der Organträger die Umsatzsteuer für den Organkreis schuldet.

Folgende Kernaussagen sind hervorzuheben:

§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG ist zu restriktiv, weil er vorsieht, dass die Mehrwertsteuergruppe (und folglich der Organträger) der einzige Steuerpflichtige ist. Steuerpflichtige, die einer Mehrwertsteuergruppe angehören, sind weiterhin als Einzelpersonen steuerpflichtig, solange sie nicht aufhören, selbständige wirtschaftliche Tätigkeiten auszuüben.
Ein Unternehmen bleibt auch dann ein Steuerpflichtiger, wenn es von einem anderen Unternehmen beherrscht wird oder wenn es sich ganz oder teilweise in dessen Besitz befindet.
Alle Mitglieder einer Mehrwertsteuergruppe haften gesamtschuldnerisch für die Mehr­wert­steuerschulden der Gruppe, auch wenn de facto nur der Ansprechpartner der Fi­nanz­ver­waltung den gemeinsam geschuldeten Mehrwertsteuerbetrag entrichtet.
Jeder Steuerpflichtige haftet für seine eigenen Verpflichtungen in Bezug auf die Mehr­wert­steu­er. Weil die Mitglieder einer Mehrwertsteuergruppe ihre Eigenschaft als in­di­vi­duel­le Steuerpflichtige nicht verlieren, unterliegt die Verteilung der mehr­wert­steu­er­recht­li­chen Haftung auf die Mitglieder der Mehrwertsteuergruppe dem nationalen Vertrags- und Deliktsrecht.
Unerheblich ist, dass Deutschland die Mehrwertsteuergruppe bis jetzt nicht als Unternehmensform im nationalen Recht verankert hat.
Es besteht ein Vorrang des Mehrwertsteuerrechts der EU vor dem nationalen Zivil- oder Gesellschaftsrecht.
Der Steuerpflichtige, der die Mehrwertsteuer schuldet, ist die Mehrwertsteuergruppe selbst und nicht nur der Organträger.
Die nationale Voraussetzung, dass die Mehrheit der Stimmrechte beim Organträger liegen muss, dient nicht dazu, missbräuchliche Praktiken zu verhindern oder Steu­er­hin­ter­ziehung und ‑umgehung zu bekämpfen.

Praxishinweis

Man kann ohne Pathos sagen: Würde der EuGH den Schlussanträgen der Generalanwältin folgen, würde die über 100 Jahre alte deutsche Organschaft, so wie wir sie kennen, auf­hören zu existieren.

Auswirkungen für die Praxis?

Was bedeutet das für die Beratungspraxis?

In der Masse der Fälle sollte zunächst die Steuererklärung weiter auf Basis der Ver­wal­tungs­auf­fas­sung erstellt und abgegeben werden. Insoweit besteht Ver­trau­ens­schutz.
Alle Organschaftsfälle sollten anschließend unbedingt offen gehalten werden, bis der EuGH und nachfolgend der BFH entschieden haben. Kein Bescheid darf zur Zeit materiell bestandskräftig werden. Daher ist unbedingt auch auf Aufhebungen des VdN zu achten.
Durch die (nach Generalanwältin Medina weiter bestehende) Steuerpflichtigen-Ei­gen­schaft des Organträgers und aller Organgesellschaften sowie die Ge­samt­schuld­ner­schaft aller Mitglieder des Organkreises für die gesamte Um­satz­steu­er des Or­gan­krei­ses dürften Steuervorteile durch eine „gespaltene“ Be­ruf­ung auf Unionsrecht bzw. na­tio­na­les Recht nicht möglich sein.
Wenn das FA eine angenommene Organschaft nicht anerkennt, weil angeblich die Eingliederungsvoraussetzungen nicht vorliegen, sollte Einspruch eingelegt werden.
Rechtssichere Gestaltungsberatung ist derzeit kaum möglich. Wo möglich, sollte man vor kostenauslösenden Maßnahmen abwarten. Zur Erreichung von Vertrauensschutz sollte sonst auf Basis der Auffassung des BMF gestaltet werden. Ggf. muss später nachgesteuert werden.
Eine Gesetzesänderung wird wahrscheinlicher.

Praxishinweis

Es werden sich nun vielleicht Stimmen zu Wort melden, die den Untergang der deutschen Organschaft befürchten. Aber: „In jedem Ende liegt ein neuer Anfang“1. Hier könnte im möglichen Ende der Organschaft in der bisherigen Form der Anfang einer „modernen“ Gruppenbesteuerung liegen - mit Gleichberechtigung anstelle von Über- und Un­ter­ord­nung. Eine mögliche neue Stufe der Gruppenbesteuerung also, für die gälte: „Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne, um sich in Tapf­er­keit und ohne Trauern in andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben2“.


Fußnoten anzeigen


  1.  ]Miguel de Unamuno.
  2.  ]Hermann Hesse, Stufen, 4.5.1941.